Donnerstag, 15. Mai 2014

Die tote Gasse

Durch diese tote Gasse muss ich gehen. 

Schiller war vorgestern, heute ist tot das neue hohl. Das denke ich, währenddem ich in diese finstere, lange Gasse einbiege. Meine Fingerkuppen streichen langsam über die poröse Oberfläche der Sandsteinmauern. Die vertrauten Pickel im Gesicht dieser mir so geliebten Stadt. Mit meinen Füssen versuche ich nur auf die weissen Pflastersteine zu treten. Es ist das alte Kinderspiel, dass die dunklen Steine in flüssige Lava verwandelt und mich mit grossen, gezielten Schritten herumstelzen lässt. Ein dezenter Ammoniakgeruch dringt in meine Nase. Vielleicht ist es auch der Geruch aus einem offenen Fenster einer Wohnung, in der eine fleissige Hausfrau gerade eine währschafte Bernerplatte zubereitet. Riecht Sauerkraut so? Rippli und Speck jedenfalls nicht, da dominiert der Geruch von Pökelsalz und saftigem Fett. Ich entdecke eine Pfütze vor einem Hauseingang und frage mich, woher diese Flüssigkeit wohl kommen mag. Geregnet hat es in letzter Zeit nicht. Als ich näher trete, erkenne ich das international bekannte Piktogramm, welches eine Tür als Zugang zu einer Toilette kennzeichnet. Kann der flüchtige Ammoniak-Bernerplatten-Geruch gar ein Uringestank sein? Ich wäge die Möglichkeit ab und werfe dabei weitere Fragen auf. Wenn jemand tatsächlich die Dreistigkeit besitzt, in eine Gasse zu urinieren, warum tut er es dann gerade vor der Tür einer öffentlichen Toilette? Das wäre so, als ob man sein eigenes Essen in eine Suppenküche bringen würde oder als ob man an ein Konzert gehen würde, nur um dann mit Kopfhörern eigene Musik zu hören. Warum ging der Kerl nicht rein und wickelte dieses Geschäft ganz ordentlich ab. War das irgendein trauriger Zyniker, der sich so gegen das Establishment auflehnen wollte? Oder war es ein Trunkenbold, der die Tür nicht mehr rechtzeitig öffnen konnte? Vielleicht war die Tür schlicht verschlossen, so dass dem Täter keine andere Möglichkeit blieb. Bei genauerer Betrachtung stelle ich fest, dass Wasser unter der Tür raus läuft. Also ist das möglicherweise gar kein Urin. Ich versuche die Tür zu öffnen, was nicht so einfach ist. Mit ganzer Kraft gelingt es mir schliesslich, die Tür springt mit einem krachenden Knall auf und eine unglaubliche Menge Wasser schiesst mir in Form einer Flutwelle entgegen. Die Massen reissen mich um, reissen mich mit und tragen mich die Gasse runter, vorbei an dem bereits zurückgelegten Weg, vorbei an den imaginären Lavapflastersteinen und vorbei an den geliebten Sandsteinmauern. Die Gasse verwandelt sich in einen reissenden Fluss mit stetig steigendem Pegel. Panisch schnaufend schwimme ich mit dem Strom, durch die Lauben, die überflutet werden, am Münster vorbei, bis ich mich schliesslich auf das goldene Dach des Bundeshauses retten und erschöpft auf die überschwemmte Stadt blicken kann. Bekümmert denke ich über mein Unglück nach und verstehe, warum man nie auf einer öffentlichen, sondern davor urinieren sollte. Hätte ich doch bloss nie diese tote Gasse betreten.

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